Wie die Kuh zum Melkstand gelockt wurde

Von Ralph Bosshard

Ralph Bosshard ist Berufsoffizier mit Generalstabsausbildung in der Schweizer Armee. Von 2014 bis 2020 war er militärischer Sonderberater des OSZE-Generalsekretärs und arbeitete in Österreich und der Ukraine.

Nach dem Ende des Kalten Krieges kam auch in der Schweiz Euphorie auf und man glaubte, nun rasch alle alten Probleme aus zwei Weltkriegen in friedlicher Zusammenarbeit lösen zu können. In dieser Zeit begann eine Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der NATO, die zur sogenannten Interoperabilität, das heißt zur Fähigkeit zur Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften führen sollte. Schweizer Armeekader nahmen in immer größerem Umfang an Ausbildungsveranstaltungen der NATO teil. Bald aber schon begann sich die hässliche Seite dieser Zusammenarbeit zu zeigen, als der Westen und die NATO ihre Monopolstellung als stärkstes Militärbündnis der Welt zu nutzen begannen, um alte geopolitische Konzepte umzusetzen, weltweit Volksaufstände niederzuschlagen und unliebsame Regimes zu Fall zu bringen.  

Aufbruchstimmung und Partnerschaft

Ausgangspunkt für die Annäherung zwischen Nichtmitgliedern und der NATO war das Programm der Partnership for Peace PfPGrundsätzlich war es gedacht für Länder, die sich um eine Annäherung an die NATO bemühten, denen die NATO aber keine Mitgliedschaft anbieten wollte.[1] Die entsprechende Skepsis kam auf, weil man vermutete, dass manche Länder mit einer Mitgliedschaft in der NATO im Rücken glauben würden, sie könnten alte Konflikte mit Russland wieder anheizen. Wenn man heute die Stimmen aus dem Baltikum hört, wird klar, dass diese Abneigung damals sehr berechtigt war. 

Als 1994 die PfP ins Leben gerufen wurde, war Aufbruchstimmung zu spüren. Auf dem Budapester Treffen der OSZE Außenminister war beschlossen worden, dass die Ukraine und Belarus ihre Kernwaffen abgeben würden.[2]Gemeinsam, so dachte man, könne man die alten Probleme des Kontinents lösen. In diesem Zusammenhang wurde die Minsker Gruppe zur Lösung des Karabach-Konflikts gegründet.[3] Gemeinsame Peacekeeping Operationen waren vorgesehen. Aber schon in den folgenden Jahren gelang es nicht, die Nationalitätenkonflikte im ehemaligen Jugoslawien zu lösen und ein Streit um russische Peacekeeper in Pristina löste beinahe einen großen Krieg aus.[4] Das hätte in Bern einen Nachdenkprozess auslösen müssen. 

Damals glaubte auch die Schweiz aber, sich bei Bedarf an sogenannten Krisenmanagement-Operationen der NATO beteiligen zu müssen. Der Vorbehalt, dass hierfür ein Mandat der UNO oder der OSZE vorliegen müsse, war sehr berechtigt. Die UNO ist nun mal die Organisation, welche zumindest für ein Minimum an allgemein anerkannten Regeln im Umgang der über 190 Staaten der Welt miteinander steht. Die EU erhebt zwar diesen Anspruch, ist es aber definitiv nicht und wendet mit ihren wirtschaftlichen und politischen Sanktionen ständig das Recht des Stärkeren an, welches sie selbst so vehement kritisiert. 

Das „Mada-Szenario“ aus der Ausbildung der NATO war der militärische Ausfluss solcher Phantasien. Es wurde für die Ausbildung in den Kursen verwendet, an welchen Offiziere aus PfP-Nationen teilnahmen. Es ging darum, auf einer fiktiven Insel einen Aufstand zu bekämpfen und die “legitime” Regierung an der Macht zu halten. Die Urheber des Szenarios bei der NATO gaben sich gar keine Mühe, die Ähnlichkeit mit existierenden Ländern zu verbergen, denn es ist auf den ersten Blick ersichtlich, dass es sich bei der betroffenen Insel um Madagaskar handeln musste. Ob die NATO-Planer in Antananarivo nachfragten, bevor sie dieses Szenario entwarfen, stand in den Übungen nicht zur Debatte: Hier ist das Turngerät, also turnt!  

Karte: Mada -Szenario
Quelle: NATO[5]

Alternativen hätte es bestimmt gegeben, beispielsweise in Form eines Szenarios in einem NATO-Mitgliedsland. Das hätte obendrein den Vorteil gehabt, dass Erkundungsmissionen vor Ort möglich sind, allenfalls sogar Übungen, welche die Verlegung von Führungseinrichtungen ins Operationsgebiet beinhalten oder sogar Volltruppen-Übungen. Natürlich müssen Übungen auf der operativen Stufe die Möglichkeit der Zusammenarbeit zwischen Teilstreitkräften und zwischen Kräften verschiedener Nationen schaffen. Gerade anhand des Mada-Szenarios wurde die Bedeutung von Seemacht klar. Gestützt auf diese haben die NATO-Staaten die Möglichkeit, jedem Land an so gut wie jedem Meer der Welt mit dem Einsatz von Flugzeugträger-Kampfgruppen zu drohen.[6] Gerade die Flugzeugträger der US Navy verfügen über mehr Kampfflugzeuge und die ihnen folgenden Amphibischen Kampfgruppen mehr Panzer und Hubschrauber als die meisten Armeen der Welt. 

Jetzt stellt sich die Frage, was für eine Rolle die Schweiz und ihre Armee in einem solchen Szenario zu spielen haben. 

Interventionen von Schweden bis Georgien

Ein anderes Szenario, das in Stabsübungen der NATO verwendet wurde, die Crisis Management Operationen zum Thema hatten, war das Skolkan-Szenario. Dieses spielt in einen fiktiven Staat im zerfallenen Schweden und Finnland. Das ist natürlich ein aufgewärmtes Szenario aus dem Kalten Krieg, als die NATO glaubte, die Sowjetarmee würde sich durch Schweden den Weg zur Nordsee freikämpfen und beabsichtigte, aus Schweden heraus Ziele der Warschauer Pakts bzw. des Warschauer Vertragsorganisation in Polen anzugreifen.[7] Immerhin war es für den neutralen Teilnehmer tröstlich zu erfahren, dass auch die NATO nicht viel mehr fertigbringt, als alte Szenarien aufzuwärmen. 

Karte: Solkan-Szenario
Quelle: NATO,[8] Ergänzungen Verfasser

Im Führungsstab der Armee FST A stellte sich irgendwann einmal die Frage, weshalb die Schweizer Armee ständig Offiziere in sogenannte Lange Auslandskommandierungen bei der NATO entsendet, wo sie doch fast ausschließlich Ausbildung in der Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency) vermittelt bekommen. Das kann nicht die Aufgabe der Schweizer Armee sein, weder im Innern noch in der Fremde; und sie braucht dieses Know-How nicht. Unkritisch hat in jenen Jahren die Schweizer Armee genau diese Einsatzformen übernommen, was sich namentlich in der sogenannten Raumsicherungsoperation zeigte, die über Jahre hinweg in den Lehrgängen der Höheren Kaderausbildung der Armee doziert wurde. In der Chefetage der HKA ärgerte man sich damals, dass sich kaum Vertreter von Kantonsregierungen fanden, die daran teilnehmen wollten. Dass solcher Unsinn überhaupt zelebriert wurde, ist der Schwäche der damaligen Chefs der Armee und der Abteilung Sicherheitspolitik im VBS zuzuschreiben. Hier hätte ein echter Generalstabschef die Impulse liefern müssen und müsste es noch heute.

In der Zwischenzeit hat man offenbar besonders in den USA die Lust daran verloren, ständig fiktive Staaten zu schützen oder zu „befreien“. Ausdruck davon ist das „GAAT-Szenario“ für den Süd-Kaukasus: Georgia, Armenia, Azerbaijan, Turkey. Dabei geben sich die Amerikaner wenig Mühe, politische Korrektheit zu wahren. Es ist offensichtlich, dass es um den Iran geht: Das fiktive Gebiet „Ariana“ umfasst die Nordteile der iranischen Provinzen West-Aserbaidschan, Ost-Aserbaidschan, Ardabil und Gilan. Die Bezeichnung „Donovia“ stammt vom Fluss Don in Süd-Russland. Und dass es sich bei „Kemalia“ eigentlich nur um die Türkei handeln kann, ist auch klar. 

Karte: GAAT-Szenario
Quelle: Wall Street Journal[9]

Schweizer Panzer wofür? 

Höhepunkt des Fimmels war dann noch die Lehrkörper-Ausbildung des damaligen Chefs der HKA, Divisionär Zwygart im Jahr 2007. Er ließ aus allen Instruktoren aus der Militärakademie Zürich, der Zentralschule Luzern, der Berufsunteroffiziersschule Herisau und der Generalstabsschule einen Brigadestab zusammenstellen, welcher eine multinationale Brigade in solch einer Krisenmanagement-Operation zu führen hatte. Zwygart wollte dadurch wohl nicht zuletzt seine eigene Karriere fördern und hoffte andererseits, NATO-Mitgliedsländer würden dann noch mehr Offiziere in die Lehrgänge der HKA entsenden. Irgendwie war ihm wohl nicht bewusst, dass die NATO wenig Interesse hat, von einem Land zu lernen, das selbst kaum praktische Erfahrungen hat. Die NATO-Beteiligung war dann auch bescheiden: zwei Belgier. Stabsübungen zum Thema Peacekeeping machten damals die Schweden alle zwei Jahre und tun dies bis heute.[10]

Nie beschäftigt hat sich die Schweizer Armee mit echten, glaubwürdigen Szenarien der Landesverteidigung, leistete sich aber trotzdem immer den Luxus starker mechanisierter Kräfte. Lange wurde kolportiert, die Leopard-II-Panzer der Schweizer Armee könnten innerhalb des Landes weder eingesetzt werden, noch könne man den Umgang mit ihnen im Land üben. Damals faselte die Doktrin-Stelle des Heeres von einem Einsatz von vier schweizerischen Panzerbrigaden im Süddeutschen Raum. Das hätte bedeutet, dass die Schweiz in einen gesamteuropäischen Krieg eintritt, bevor sie selbst angegriffen wurde. Damit ging man in der Armee weit über die ursprüngliche Absicht hinaus, die darin bestand, sich an Peacekeeping Operationen zu beteiligen und weitete die Zusammenarbeit auf den Bereich der Landesverteidigung aus, von welcher man ohnehin keine konkreten Vorstellungen hatte. 

Wer Angst hat vor dem bösen Wolf, der soll bezahlen

Wer Erfahrung hat im Umgang mit EU-Diplomaten, ist problemlos in der Lage zu antizipieren, wie der Umgang mit der Schweiz weitergehen wird: Phase 1 wird darin bestehen, festzuhalten, dass die Schweizer sicherheitspolitische Trittbrettfahrer seien. In Phase 2 wird man den Schweizern Angst vor “dem Russen” einreden. Wer die Leistungsfähigkeit der russischen Armee unvoreingenommen beurteilt, weiß, dass kein Grund zur Panik besteht. Man wird den Schweizern aber beliebt machen, jährlich für vier Milliarden Franken Rüstungsgüter zu beschaffen – in den USA natürlich. Und in Phase 3 wird man von der Schweiz verlangen, dass sie sich an den Kosten der “Verteidigung Europas” beteiligt. Solidarität mit den NATO-Ländern, die 2% ihres BIP für ihre Armeen ausgeben bedeutet, zusätzliche neun Milliarden Franken jährlich an die NATO abzuführen.[11] Damit soll dann Russland daran gehindert werden, was es nicht kann und wohl auch gar nicht will: sich Westeuropa einzuverleiben. 


[1] Siehe “Partnership for Peace programme” auf der Homepage der NATO, online unter https://www.nato.int/cps/en/natolive/topics_50349.htm. Zur russischen Beteiligung siehe “Statement by the Secretary General on Duma Ratification of PfP Status of Forces Agreement“, ebd. online unter https://www.nato.int/docu/pr/2007/p07-058e.html. Vgl. “Partnership for Peace: Framework Document issued by the Heads of State and Government participating in the Meeting of the North Atlantic Council” auf der Homepage der NATO, online unter NATO https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_24469.htm

[2] Im Unterschied zum alljährlich im Dezember stattfindenden Ministerrat der OSZE, an welchem die Außenminister der Teilnehmerstaaten teilnehmen, waren 1994 Staats- oder Regierungschefs vertreten. Siehe “Fourth Heads of State Summit, Budapest“, auf der Homepage der OSZE, 05./06.12.1994, online unter https://www.osce.org/who/timeline/1990s/11. Zum Memorandum und den Sicherheitsgarantien siehe “KSZE Budapester Dokument 1994, der Weg zu echter Partnerschaft in einem neuen Zeitalter”, Korrigierte Fassung vom 21. Dezember 1994, online unter https://www.osce.org/files/f/documents/e/4/39556.pdfund Memorandum on Security Assurances in connection with Ukraine’s accession to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, 5 December 1994, online unter http://www.ppnn.soton.ac.uk/bb2/Bb2secK.pdf

[3] Siehe “OSCE Minsk Group” auf der Homepage der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, online unter https://www.osce.org/mg.

[4] Siehe “Robertson’s plum job in a warring Nato” bei The Guardian, 03.08.1999, online unter https://www.theguardian.com/world/1999/aug/03/balkans. Der britische Sänger James Blunt heftete die Lorbeeren für die Verhinderung des Dritten Weltkriegs an seine Fahnen. Siehe “Wie ich den Dritten Weltkrieg verhinderte” bei Der Spiegel, 15.11.2010, online unter https://www.spiegel.de/panorama/leute/james-blunt-wie-ich-den-dritten-weltkrieg-verhinderte-a-729197.html. Vgl. Team Mighty: Why a NATO general defied the Supreme Allied Commander in Kosovo in 1999, , bei We are the Mighty, 29.09.2023, online unter https://www.wearethemighty.com/mighty-moments/why-a-nato-general-defied-the-supreme-allied-commander-in-kosovo/.

[5] Der Verfasser hat mit diesem Szenario in NATO PfP Kursen selbst gearbeitet.

[6] Siehe “Der große Knüppel im Mittelmeer” auf Global Bridge, 16.04.2023, online unter https://globalbridge.ch/der-grosse-knueppel-im-mittelmeer/.

[7] Siehe “The Soviet Threat to Sweden during the Cold War“, bei. Parallel History Project on Cooperative Security, ETH Zürich, online unter https://phpisn.ethz.ch/lory1.ethz.ch/collections/coll_sovthreat/Introduction2f3a.html?navinfo=46465. Die Sowjets betrachteten im Kalten Krieg Schweden als mögliches Einfallstor für strategische Bomber aus den USA und Großbritannien in den Nordwesten der Sowjetunion. Der Schweizer Militärhistoriker Rudolf Fuhrer stellte nach Sichtung der Operationsplanungen und Übungsszenarien in den Archiven der ehemaligen WVO-Staaten fest, dass die Ausgangslage immer so formuliert gewesen sei, dass ein umfassender Kernwaffenschlag gegen die DDR und die ČSSR erfolgt sei und möglichst rasch ein Gegenschlag gegen die NATO geführt werden müsse. Siehe          Hans-Rudolf Fuhrer, Alle Roten Pfeile kamen aus Osten – zu Recht?“, in Military Power Review der Schweizer Armee, Nr. 2/2012, S. 50, online unter https://www.files.ethz.ch/isn/155690/MPR_2-12%20web.pdf.

[8] Siehe Alfred Goertz, Adrian Williamson: NATO Training Centres’ Conference on collaboration for Settings, Scenarios and Simulation, online unter https://www.jwc.nato.int/images/stories/threeswords/nov_TS3.pdf. Vgl. Vgl. “Beinahe katastrophale Fehlbeurteilungen”, bei Zeitfragen, Nr. 25/26, 16. November 2021, online unter https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2021/nr-2526-16-november-2021/beinahe-katastrophale-fehlbeurteilungen.

[9] Siehe James Marson, Julian E. Barnes: After Multiple Invasions, the U.S. Army Is Getting Tired of Liberating Atropia, bei Wall Street Journal, 11.09.2017, online unter https://www.wsj.com/articles/after-multiple-invasions-the-u-s-army-is-getting-tired-of-liberating-atropia-1505144872.

[10] Siehe “Viking 22 – the world’s largest international computer aided staff exercise” zur letztmaligen Austragung der Übung auf der Homepage der Schwedischen  Armee, 28.03.2022, online unter https://www.forsvarsmakten.se/en/news/2022/03/viking-22-the-worlds-largest-international-computer-aided-staff-exercise/.

[11] Siehe Christiane Hoffmann: Nato-Forderungen an Deutschland; der Zwei-Prozent-Fetisch, bei Der Spiegel, 04.04.2019, online unter https://www.spiegel.de/politik/deutschland/nato-der-zwei-prozent-fetisch-kommentar-a-1261274.html und Matthias Naß: Zwei Prozent – aus eigenem Interesse, Kolumne bei Zeit Online, 11.07.2018, online unter https://www.zeit.de/politik/2018-07/verteidigungshaushalt-nato-bundeswehr-ausruestung-donald-trump-5vor8.

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